Gefährdungs­beurteilung psychischer Belastungen

Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen – Nur eine lästige Rechtspflicht oder die Chance auf Weiterentwicklung des Unternehmens mit positiven ökonomischen Effekten

Das 1996 in Kraft getretene Arbeitsschutzgesetz verpflichtet den Arbeitgeber, die Arbeitsbedingungen zu beurteilen und im Hinblick auf die Gefährdungen erforderliche Arbeitsschutzmaßnahmen festzulegen. Sowohl die Gefährdungsbeurteilung als auch die festgelegten Maßnahmen einschließlich des Ergebnisses ihrer Überprüfung müssen dokumentiert werden.

In den folgenden Jahren wurde zwar in vielen Unternehmen eine Gefährdungsbeurteilung der physischen Belastungen wie Lärm, Gefahrstoffe, körperliche Schwere der Arbeit etc. durchgeführt, aber Gefährdungsbeurteilungen der psychischen Belastungen (GB Psych) fanden nur in einem geringen Prozentsatz statt. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber im Jahr 2013 durch eine Änderung des Arbeitsschutzgesetzes klargestellt, dass auch die psychischen Belastungen bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden müssen. Trotzdem liegen in einer 2019 veröffentlichten Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen weiterhin nur in einer Minderheit der Betriebe vor. Warum ist das so, obwohl in den letzten Jahrzehnten die physischen Belastungen abgenommen und die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zugenommen haben, also eigentlich die GB Psych immer wichtiger wird? Aus meiner Sicht gibt es dafür eine Reihe von Gründen:

1)
Das Thema „Psyche“ wird in den letzten Jahren auch im beruflichen Umfeld zwar nicht mehr so stark tabuisiert. Trotzdem wird das Ansprechen von psychischen Überlastungen im Arbeitsumfeld häufig immer noch als Schwäche bzw. als verminderte Leistungsfähigkeit der darauf hinweisenden Personen bewertet.Deshalb ist es wichtig, noch einmal einige grundsätzliche Erklärungen zur GB Psych zu geben und das fängt mit dem Begriff „Belastungen“ an. Darunter werden äußere Einwirkungen auf den Menschen verstanden. Belastungen werden häufig verwechselt oder gleichgesetzt mit dem Begriff „Beanspruchung“. Beanspruchungen sind die individuellen Reaktionen des einzelnen Menschen auf Belastungen, sie können also extrem unterschiedlich je nach Mensch ausfallen.Der Gesetzgeber hat im Arbeitsschutzgesetz nur die Beurteilung der psychischen Belastungen gefordert, aber nicht die Beurteilung der individuellen Beanspruchung durch Belastungen.

2)
Mitarbeitervertretungen haben mitunter Bedenken, weil sie bei diesem sensiblen Thema einen mangelnden Datenschutz und irrtümlicherweise eine Identifizierung von psychisch erkrankten und von weniger leistungsfähigen Beschäftigten befürchten, was gar kein Bestandteil und kein Ziel der Gefährdungsbeurteilung ist (s.a. unter Punkt 1: Unterschied zwischen Belastung und Beanspruchung). Trotzdem müssen diese Bedenken sehr ernst genommen werden. Deshalb sind u.a. eine frühzeitige transparente und vollständige Kommunikation zur GB Psych sowie schon zu Beginn der Planung eine Beteiligung der Mitarbeitervertretungen, des/der Datenschutzbeauftragten, des Betriebsarztes/der Betriebsärztin und anderer Vertrauenspersonen erforderlich.

3)
Mitunter wird auch von der Unternehmensleitung und den Führungskräften nicht die Notwendigkeit zur Durchführung der GB Psych gesehen. Dabei führt eine gut durchgeführte GB Psych inkl. der sich daraus resultierenden Maßnahmen in der Regel zu einer Win-win-Situation für das Unternehmen (ökonomische Effekte) und die Beschäftigten (verbesserte Arbeitsbedingungen). Bei der GB Psych werden auch Themen wie Prozess- und Arbeitsabläufe, Kommunikation, Zusammenarbeit und Führung beleuchtet. Maßnahmen, die zu Verbesserungen in diesen Themen führen, erhöhen nicht nur die Arbeitszufriedenheit, sondern wirken sich fast immer auch ökonomisch positiv aus. Beschäftigte, die mit ihren Arbeitsbedingungen zufrieden sind, sind leistungsfähiger und besser in der Kundenbetreuung. Außerdem führen gute Arbeitsbedingungen zur stärkeren Bindung von Leistungsträgern, verbessern das Image des Unternehmens und dadurch die Bereitschaft von Spitzenkräften, zu diesem Unternehmen zu wechseln.
Bei der GB Psych ist es nicht anders als bei einer betriebswirtschaftlichen Analyse. Sie wird durchgeführt, um evtl. Mängel zu erkennen und Dinge zu optimieren. Deshalb kann es auch vorkommen, dass als Ergebnis der GB Psych u.a. auch ein Veränderungsbedarf im Verhalten von Führungskräften festgestellt wird und zwar nicht nur im mittleren oder unteren Management. Diesem sollte man sich dann nicht verschließen, sondern eine Verhaltensveränderung als Chance zur Weiterentwicklung der eigenen Person betrachten.

4)
Die Gefährdung durch physische Belastungen zu erkennen und zu beurteilen, ist greifbarer und einfacher als die Gefährdung durch psychische Belastungen zu bewerten. Lärm, Gefahrstoffe oder Lasten kann ich z. B. messen und zu erkennen, ob ein Bildschirmarbeitsplatz ergonomische Mängel hat, ist auch kein Hexenwerk. Aber wie kann ich psychische Belastungen ermitteln? In den vergangenen Jahrzehnten wurden hierfür qualifizierte Tools entwickelt, die auch mit einem überschaubarem Aufwand gute Ergebnisse liefern. Hierbei werden in der Regel die Themenbereiche Arbeitsumgebung, Arbeitsorganisation, Arbeitsaufgabe, Zusammenarbeit, Umgang mit Kunden, soziale Beziehungen (Kollegen, Führungskraft) und neue Arbeitsformen untersucht. Nachdem Maßnahmen festgelegt und durchgeführt wurden, ist nach einiger Zeit eine Evaluation und falls erforderlich eine Veränderung der Maßnahmen erforderlich.

Nachfolgend werden einige Verfahren beispielhaft beschrieben:

a)
In kleinen Betrieben können in einem Arbeitskreis unter fachkundiger Anleitung mit einer Checkliste, in der die für die GB Psych relevanten Themenkomplexe beleuchtet werden, psychische Belastungen erfasst und im Anschluss Maßnahmen festgelegt werden.

b)
Das am häufigsten benutzte Instrument in mittelgroßen und großen Unternehmen ist die Mitarbeiterbefragung, bei der mit einem Fragebogen die für die GB Psych relevanten Themen abgefragt und anschließend in einem Workshop unter fachkundiger Anleitung Maßnahmen festgelegt werden. Als Fragebögen gibt es:

  • Sehr einfache Fragebögen, die als orientierendes Verfahren zum Einsatz kommen und einen ersten Überblick ermöglichen (Beispiel: Prüfliste Psychische Belastung der Unfallversicherung Bund und Bahn)
  • Fragebögen, die eine vertiefende Betrachtung und eine bessere Analyse der Schwachstellen im Unternehmen ermöglichen.

Nachfolgend zwei Beispiele:

  • KFZA (Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse): Dieser Fragebogen ermöglicht die Erfassung des Ist- und Soll-Zustands, also sowohl des aktuellen Zustands als auch der Erwartungen bzw. der Wünsche der Beschäftigten. Durch Betrachtung der Unterschiede zwischen Ist- und Soll-Zustand bei den einzelnen Items kann erkannt werden, wo die Beschäftigten den größten Handlungsbedarf sehen.
  • COPSOQ (Copenhagen Psychosocial Questionnaire): Der COPSOQ- Fragebogen wird in vielen Ländern eingesetzt und wurde in Deutschland erstmals im Jahr 2005 im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) erprobt. Die Werte aus der COPSOQ-Datenbank ermöglichen zusätzlich einen Vergleich, ob die eigenen Ergebnisse berufstypisch oder branchenüblich bzw. günstiger oder ungünstiger als in vergleichbaren Unternehmen sind.

c)
Zu den weiteren Verfahren der GB Psych zählen moderierte Mitarbeiterworkshops, Arbeitsplatzbeobachtungen durch Experten und Experteninterviews.

Fazit:

Die GB Psych ist viel mehr als eine lästige Rechtspflicht. Sie ist eine Chance, Schwächen im Unternehmen zu erkennen und zu beseitigen. Eine gut gemachte GB Psych und eine konsequente Umsetzung der daraus resultierenden Maßnahmen führt in der Regel einerseits zu positiven ökonomischen Effekten und einer Imageverbesserung für das Unternehmen und andererseits zu einer höheren Arbeitszufriedenheit, einer gesteigerten Bindung von Beschäftigten an das Unternehmen sowie über die Imageverbesserung zu einer verbesserten Personalakquise von Leistungsträgern.

Um eine GB Psych erfolgreich zu gestalten, sind aber verschiedene Rahmenbedingungen erforderlich. Zunächst ist es unabdingbar, dass die oberste Führung des Unternehmens die Durchführung der GB Psych als wichtiges Werkzeug betrachtet, um das Unternehmen voranzubringen und bereit ist, die Maßnahmen, die sich aus den Ergebnissen der GB Psych ergeben, konsequent umzusetzen. Fatal ist es, wenn nach Durchführung der GB Psych keine Umsetzung von Maßnahmen erfolgt, weil das zur Frustration der Beschäftigten führt und das Betriebsklima des Unternehmens beschädigt. Weiterhin sind eine offene Kommunikation und eine frühzeitige Einbindung der Mitarbeitervertretung erforderlich. Wichtig ist natürlich auch, ein für das Unternehmen passendes Tool für die GB Psych zu finden sowie qualifizierte Experten, die das Unternehmen bei der GB Psych begleiten.

Dr. med. Bernd Goronzy
Facharzt für Arbeitsmedizin – Umweltmedizin
Betriebswirt (Gesundheitsökonomie)

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